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ALEXANDER-SERGEI RAMÍREZ ·  GUITARRA CLÁSICA DEL PERÚ - Ximénez · Anónimo

DIE GITARRENMUSIK LATEINAMERIKAS UND EIN GEHEIMNISVOLLER KOFFER

Angesichts der weltweiten Popularität lateinamerikanischer Musik des 20. Jahrhunderts ist es verwunderlich, dass deren Geschichte so gut wie unerforscht ist – dies gilt insbesondere für die Entwicklung der lateinamerikanischen Gitarrenmusik des 16. bis 19. Jahrhunderts.

Dabei lässt sich deren Beginn ziemlich genau datieren:
Mit General Francisco Pizarro (1471 oder 76 – 1541), dem „Conquistador“ des Inkareiches, kamen ab 1531/32 die ersten Vihuelas – die höfischen Ausführungen der damaligen Gitarren - nach Südamerika. Es ist überliefert, dass für das neu gegründete „Vize-Königreich Spaniens“ – dem heutigen Peru – extra Vihuelas importiert wurden, um das Leben der Soldaten und Geistlichen fern der Heimat etwas „erträglicher“ zu machen. Einer der ersten professionellen Vihuelisten, die in Lima an Land gingen, war der Portugiese Francisco Lobato y López im Jahre 1543.

Viele Musiker folgten ihm. Einer der Wichtigsten unter ihnen dürfte wohl der spanische Geistliche, Harfenist und Gitarrist Lucas Ruiz de Ribayaz (1626-nach1677) gewesen sein, der 1667 den neuen Vizekönig und Amateurgitarristen Pedro Antonio Fernández de Castro y Andrade auf seiner Reise nach Lima begleitete. Nach Ribayaz` Rückkehr veröffentlichte er im Jahre 1677 in Madrid sein Musikbuch „Luz, y norte musical, para caminar por las cifras de la guitarra españióla y arpa“ mit einigen Kompositionen, die eindeutig lateinamerikanischen Ursprungs sind wie z.B.: Chaconas, Zarabandas oder Matachines.

Von dem spanischen Komponisten Santiago de Murcia (1673 – 1739) wurden vor einigen Jahren Exemplare seiner Musikbücher "Passacalles y obras", "Codice Saldivar no. 4" sowie die Sammlung „Cifras selectas de guitarra (1722)“ in Mexiko und Chile gefunden. Auch wenn nach dem jetzigen Stand der Musikwissenschaft diese Werke nicht in Lateinamerika komponiert wurden, waren sie damals doch dort bekannt.

Die ersten beiden, nachweislich in Lateinamerika niedergeschriebenen Kompositionssammlungen für Gitarre stammen aus Peru: das „Quaderno (Cuaderno) – Música para Guitarra de Mathias José Maestro“ datiert vom 1. Januar 1786 sowie das „Libro de Zifra“ – ein 25 seitiges Heft aus dem Besitz eines gewissen Francisco Garcia – ein in Lima stationierter Oberleutnant des königlichen Ingenieurkorps, datiert vom 18. Dezember 1805.
In beiden Heften finden wir Werke unbekannter Komponisten wie z.B. die zeitlos schönen Menuette in g-moll (Track 33), c-moll (Track 36) oder das Largo (Track 21), welche in Form und Harmonik noch im Barock verwurzelt und aus der Feder eines Arcangelo Corelli (1653-1713) stammen könnten.

Ebenfalls finden sich dort eine Version des in Spanien so populären Fandangos (Track 25), das an fernes Glockengeläut erinnernde Rondo (Track 9) und nicht zuletzt das bereits lateinamerikanisch anmutende Andante No. 3 (Track 8). Überhaupt ist allen Stücken die europäische Form und Harmonik gemein, die - gewürzt mit einigen überraschend eintretenden Harmoniewendungen, ungewohnten Vorschlägen oder Verzierungen - schon deutlich auf eine Verschmelzung von europäischer „Kunstmusik“ und lateinamerikanischer Folklore hinweisen.

Während es sich beim „Libro de Zifras“ um ein reines Notenbuch handelt, in dem die Kompositionen teils in spanischer Tabulatur, teils in alter Notenschrift notiert sind, handelt es sich beim „Quaderno – Musica para guitarra de Mathias Maestro“ eindeutig um ein persönliches Skizzenbuch für Studienzwecke.

Das mit einem wunderbar verzierten Umschlag versehene Heft beinhaltet Kompositionen für solo Gitarre, die jedoch nicht von Maestro selbst stammen. Wir finden hier auch einzelne Gitarrenstimmen, die offensichtlich zu einem Ensemble-Werk gehören; des weiteren Technikstudien („Preludios por todos tonos“) und einige von ihm gezeichnete Skizzen von Säulen, Torbögen und Köpfen.

Mathias Maestro (1766, Vitoria, Spanien – 1835, Lima) war ein wahres Multitalent: Priester, Maler, Zeichner, Bildhauer, Musiker und Architekt: er portraitierte verschiedene Persönlichkeiten Limas, baute Altäre und Kirchenportale und entwarf den Hauptfriedhof in Lima, der nach ihm "Presbítero Mathías Maestro" benannt wurde.

Leider ist uns auch der Name des Komponisten des „Cuaderno para vihuela, Lima 1830“ nicht überliefert. In diesem 9-seitigen, handgeschriebenen Heft finden sich verschiedene kurze Stücke – meist Menuette. Einige Musikwissenschaftler nehmen an, dass angesichts der Entstehungszeit, Stilistik, Form und nicht zuletzt aufgrund des spieltechnischen Schwierigkeitsgrades dieser Werke, nur ein Komponist in Frage kommt, der diese Werke komponiert haben könnte:
der zu dieser Zeit in Lima lebende PEDRO XIMÉNEZ ABRILL DE TIRADO.

Wie wir erst seit kurzem wissen, wurde Ximénez 1780 in Arequipa, der „weißen Stadt in den Anden Perus“ geboren und verstarb 1856 in Sucre, Bolivien in großer Armut. Der seit seinem Tod völlig in Vergessenheit geratene Komponist galt aber lange als ein Phantom: In Südamerika kursierten Gerüchte über einen Komponisten, der von seinen Zeitgenossen „der Rossini Lateinamerikas“ genannt wurde und wunderbare Musik geschrieben haben soll. Man kannte aber weder seinen genauen Namen - Ximénez, Jiménes Tirado, Tirado-Abril oder Abrill-Ximénez, noch seine Herkunft, Lebensdaten oder irgendwelche Kompositionen von ihm. Kurioserweise waren in Europa zumindest Insidern zwar sein Name bekannt und einige wenige seiner Menuette wurden von dem italienischen Gitarristen und Komponisten Benvenuto Terzi (1892-1980) gespielt – mehr jedoch nicht.

Erst ein großer Zufall half, die einzelnen Puzzleteile des Mysteriums Pedro Ximénez zusammen zu fügen:

Sucre, Bolivien im Jahre 2004:
Der dort ansässige amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William L. Lofstrom wird auf einer Strasse von einem Mann angesprochen, der ihm einige uralte, handbeschriebene Papiere zum Kauf anbietet. Obwohl selbst kein Musiker, erkennt Lofstrom sofort den Wert dieser Notenschriften und erwirbt sie. In den nächsten Tagen bringt der Unbekannte ihm weitere Manuskripte. Eigenen Angaben zufolge hat der Mann einen großen Koffer geerbt, der viele Jahre auf dem Dachboden des Hauses seiner Verwandten gelegen hatte. Nun versuchte er, seinen Inhalt in bare Münze umzuwandeln.

Welch ungeheurer Schatz war auf diese Weise ans Tageslicht gekommen! Dieser Koffer beinhaltete, schön sortiert und trotz des Alters und des Klimas fast unbeschädigt, einen Großteil seiner Kompositionen, die nach jetzigem Kenntnisstand 42 Symphonien, 47 Messen, 113 Chorwerke, 226 Lieder mit Klavierbegleitung, 50 Walzer für Klavier, Kammermusikwerke und noch vieles mehr umfassen.
Weitere Details erfährt der interessierte Leser später aus der Feder von William Lofstrom selbst.

Pedro Ximénez muss nicht nur ein hervorragend ausgebildeter Kirchenmusiker, sondern auch ein exzellenter Gitarrist gewesen sein. Neben den bereits erwähnten Werken schrieb Ximénez zahlreiche Kompositionen für oder mit Gitarre, so z.B. eine Sammlung von 119 Gitarrenstücken, Werke für Cello und Gitarre sowie zwei Divertimenti für Gitarre und Ensemble.
Von seinem bisher bekannten Oeuvre sind offensichtlich nur zwei Werke zu Ximénez` Lebzeiten im Druck erschienen: „Mis pasatiempos - segun el gusto peruano“ für Gitarre, sowie die Sammlung von „100 Minuette für Gitarre“ im Jahre 1844 bei Ricault, Parent & Cie in Paris in zehn Bänden zu je 10 Menuetten. Alle anderen Werke sind uns ausnahmslos handschriftlich überliefert.

Im Gegensatz zu der in Europa bekannten Menuett-Form A-B-A sind Ximenez´s Menuette in A-B Form komponiert. In diesen meist nur 16-taktigen Menuetten entfaltet Ximénez jedoch eine unglaubliche Fantasie und macht aus jeder einzelnen Miniatur ein kleines Meisterwerk. Seine melodiöse Einfallsgabe scheint grenzenlos, die Menuette sind gespickt mit den unterschiedlichsten technischen Raffinessen wie z.B. Tremolo, Rasgueados, Flageoletts, Verzierungen oder überraschenden harmonischen Wendungen. In gewisser Weise erinnern Ximenez´s Kompositionen an die Menuette des spanischen Komponisten Fernando Sor (1778-1839), aber auch an die kurzen Gitarrenstücke „Ghiribizzi“ des italienischen Komponisten Nicolo Paganini (1782-1840) oder an die 36 Capricen op. 20 von Luigi Legnani (1790-1877).

Im Gegensatz zu diesen rein „klassischen“ Kompositionen können und wollen Ximénez´ Menuette durch ihre melancholischen Färbungen und Harmoniewendungen ihre lateinamerikanische Herkunft nicht leugnen. Zaghaft verbindet er immer wieder die klassisch europäischen Kompositionsformen mit folkloristischen Elementen seines Heimatlandes, so wie es später Agustin Barrios-Mangoré oder Antonio Lauro in ihren Werken machen sollten. Auch in spieltechnischer Hinsicht antizipiert Ximénez deren Weg: mit dem relativ häufigen Wechsel zwischen gegriffenen und leeren Saiten, oder parallelen Akkordversetzungen erzielt er klangliche Effekte, die Jahrzehnte später der aus Kompositionen zur Meisterschaft bringen sollte. So kann man Ximénez als das Verbindungsglied – „the missing link“ - zwischen den Komponisten der klassischen Epoche wie Sor, Giuliani oder Carulli und den uns jetzt so beliebten südamerikanischen Gitarrenkomponisten wie Barrios, Villa-Lobos, Lauro oder selbst Yupanqui ansehen.

Ximénez` 100 Menuette gehören sicherlich zum Wertvollsten, was je für klassische Gitarre geschrieben wurde und rückt mit ihnen Lateinamerika etwas weiter in den Mittelpunkt der Geschichte der klassischen Gitarrenmusik.


Alexander-Sergei Ramírez,
Lohmar, Germany,
März 2004