DAS IRDISCHE UND DAS EWIGE: Die 3. Symphonie Gustav
Mahlers
„Symphonie heißt mir eben: mit allen
Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.“
G. Mahler (aus „Erinnerungen an Gustav Mahler“
von Natalie Bauer-Lechner)
„Ich bin nämlich überzeugt, wenn
Gott aufgefordert würde, sein Programm zur
"Welt", die er geschaffen, zu geben,
könnte er es ebensowenig. “
G. Mahler (Aus dem Brief an Alma Schindler vom
19 Dezember 1901)
Der Komponist, der eine so offene „Rivalität“
mit Gott gewagt hat, war außerdem ein großer
Dirigent: Mit seinem Namen ist eine ganze Epoche
in der Dirigentenkunst verbunden. Mit aufopferungsvoller
Ergebenheit diente Gustav Mahler am Dirigentenpult
der Musik von Mozart und Beethoven, Wagner und
Bruckner, Verdi und Tschaikowski. Als Dirigent
hat Mahler die Meisterwerke der Klassiker und
seiner eigenen Zeitgenossen neu erschaffen, als
wäre er deren Mitverfasser und Mitschöpfer.
Den bekannten Aphorismus von Friedrich Schelling
– „Die Architektur ist die erstarrte
Musik“ – übersetzte Mahler in
seine Dirigentensprache: Musik ist die Architektur
in der Zeit, eine bewegliche und fließende
Architektur. Und dieser Auffassung entsprechend
erschuf er in Anwesenheit von Tausenden Zuschauern
und Zuhörern die grandiosen Tempel seiner
Symphonien und Opern. Er zeichnete nicht mit sklavischer
schülerhafter Hand fremde Vorgaben nach,
er baute nach den Zeichnungen großer Architekten.
Und eben dieser Prozess des Baus der musikalischen
Form als solcher, d.h. ihrer Entfaltung in der
Zeit war für Mahler unendlich wichtiger als
das Endziel – die vollkommene Form eines
Kristalls, in der sich das verklungene Werk im
Bewusstsein des Zuhörers verkörpert.
Darin bestand eigentlich der allerwichtigste Beitrag
Mahlers zur Ästhetik und künstlerischen
Praxis des Dirigierens. Mahler war nicht der erste
komponierende Dirigent in der Geschichte der musikalischen
Interpretation: Das Fundament der Dirigentenkunst
war bereits durch Weber und Berlioz, Wagner und
List, Richter und Bülow fest vorgegeben.
Aber Mahler begriff als erster die Wagnersche
Furcht vor der kristallinen Form und setzte in
seiner Rolle als Komponist und Dirigent die Konzeption
der Form als Prozess konsequent um. Beim Dirigieren
seiner eigenen Symphonien vereinte Mahler auf
glückliche Art und Weise den musikalischen
Architekten mit dem Bauingenieur, der sein „Bauprojekt“
unmittelbar im Konzertsaal verwirklicht. Erst
nach Mahlers Tod begannen große Theoretiker
wie Ernst Kurth in seiner Monographie über
Bruckner (1925) und Boris Assafjew in seinem Buch
mit dem sprechenden Titel „Die musikalische
Form als Prozess“ (1930) darüber zu
schreiben.
Die Entstehung und Bestätigung von Mahlers
symphonischer Konzeption fand ihre Realisierung
auf den Seiten der Partitur in Gestalt einer allmählichen
Reifung und Verwandlung der eigentlichen musikalischen
Themen – wiederum eines Prozesses, der sich
während der Interpretation in Anwesenheit
der Zuhörer vollzog.
Der Name Wagners taucht in Verbindung mit Mahler
am häufigsten dann auf, wenn man über
die von Mahler realisierten vorbildlichen Inszenierungen
der von Wagners Opern „Lohengrin“,
„Tristan und Isolde“ und der Tetralogie
„Der Ring des Nibelungen“ spricht.
Aber es ist nicht weniger von Bedeutung, welche
entscheidenden Schlussfolgerungen der Komponist
Mahler aus den Äußerungen Wagners über
die Zukunft der Symphonie und Instrumentalmusik
insgesamt zog. Wir erinnern an die kategorischen
Worte des jungen Wagner über die 9. Symphonie:
„Die letzte Symphonie Beethovens ist die
Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente
heraus zur allgemeinsamen Kunst. Sie ist das menschliche
Evangelium der Kunst der Zukunft“ (Das Kunstwerk
der Zukunft, 1849).
Im gleichen Jahr beendet Wagner seinen zweiten
grundlegenden Aufsatz „Die Kunst und die
Revolution“. Auf dem Titelblatt des Manuskripts
findet sich der vielsagende Satz: „Musik
beginnt da, wo Worte enden“ (Heinrich Heine).
Wagner glaubt, dass Beethoven mit seiner 9. Symphonie
das Gegenteil beweist: Da, wo die Musik kraftlos
ist, kommt ihr das Wort zur Hilfe. Und hier sind
die Zeilen aus Mahlers Brief an seinen Freund
Arthur Seidl vom 17. Februar 1897: „Wenn
ich ein großes musikalisches Gebilde konzipiere,
so komme ich immer an den Punkt, wo ich mir das
"Wort" als Träger meiner musikalischen
Idee heranziehen muß. – So ähnlich
muß es Beethoven bei seiner IX. gegangen
sein…“
Die österreichische Bratschistin und Freundin
Mahlers seit der Zeit seines Studiums am Wiener
Konservatorium Natalie Bauer-Lechner gibt in ihren
Erinnerungen folgende Äußerung des
Komponisten wieder: „Das war das Ei des
Kolumbus, daß ich in meiner Zweiten Symphonie
mit dem Wort und der menschlichen Stimme einsetzte,
wo ich es, um mich verständlich zu machen
brauchte. Schade, daß mir das in der Ersten
noch gefehlt hat! In der Dritten geniere ich mich
aber nicht mehr...“
In einem Brief an Friedrich Löhr vom 17.
August 1895 berichtet der Komponist: „Der
Sommer brachte mir die III. – wahrscheinlich
das Reifste und Eigenartigste, was ich bisher
gemacht.“ Überhaupt war der Sommer
eine besonders fruchtbare Jahreszeit für
Mahler, der sich in seinem Urlaub von den alltäglichen
Pflichten eines Dirigenten sowie von der seine
Aufmerksamkeit stark in Anspruch nehmenden „fremden“
(nicht seiner eigenen!) Musik befreite.
Dieses Mal verbrachte Mahler den Urlaub in Steinbach
am Attersee, einem Bergkurort in Oberösterreich,
wo die majestätische Natur bei der Schöpfung
einer neuen Symphonie „mitwirkte“.
Der bei Mahler als Gast weilende Bruno Walter
erinnerte sich: „Als mein Blick auf unserem
Wege nach seinem Haus auf das Höllengebirge
fiel, dessen starre Felsenwände den Hintergrund
der sonst so anmutigen Landschaft bilden, sagte
Mahler: "Sie brauchen gar nicht mehr hinzusehen
– das habe ich schon alles wegkomponiert";
und er sprach sofort vom Aufbau des ersten Satzes,
dessen Einleitung in der Skizze den Titel trug
Was mir das Felsgebirg erzählt.“
Und dies war keine Metapher: Wenn er sein kleines
hölzernes „Komponierhäuschen“
über dem See verließ, ging Mahler in
die Berge und hörte und hörte. Ende
August 1895 lagen bereits alle Sätze der
Symphonie außer dem Ersten in der Partiturfassung
vor. Aber um die Berge zu hören, reichte
Mahler ein Sommer nicht aus:
Der erste Satz der Symphonie wurde erst im Sommer
folgenden Jahres 1896 beendet.
Und wenn im Finale der 2. Symphonie, komponiert
auf den Text „Aufersteh´n, ja aufersteh´n
wirst du…“ aus der Ode von Friederich
Klopstock, Mahler das ewige Leben des schöpferischen
Geistes besang und dabei das Problem der persönlichen
Unsterblichkeit auf seine eigene Art löste,
so entsteht vor uns in der 3. Symphonie „die
grandiose Konzeption des unsterblichen Lebens
von Allem, die Konzeption der unversiegbaren künstlerischen
Kraft der Natur, die das Niedere wie das Hohe
erschafft“ (Inna Barsova).
Es ist kein Zufall, dass ein anderer Autor eine
auf den ersten Blick außergewöhnliche,
aber treffende Bemerkung macht: „Die Dritte
ist doch auch ein eigentümliches, sehr junges
und doch reifes und vollkommenes Lied von der
Erde“ (Konstantin Rosenschild).
Der Unterschied liegt darin, dass das Spätwerk
von Mahler durch die Strahlen der untergehenden
Sonne beleuchtet wird, während in der 3.
Symphonie der Mittagslicht und der ein unbesiegbare
Optimismus der Jugend triumphiert.
In einem Brief an F. Löhr vom 29. August
1895 schreibt Mahler: „Meine neue Symphonie
wird circa 1 ½ Stunden dauern – es
ist alles in großer Symphonieform“
und gibt im Weiteren das Programm der Symphonie
bekannt, dessen Titel „Die fröhliche
Wissenschaft“ er Friedrich Nietzsche entnimmt.
Hier ein Auszug aus dem Vorwort Nietzsches zu
seinem Buch „Die fröhliche Wissenschaft“:
„Das bedeutet die Saturnalien eines Geistes,
der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden
hat ... eine Lustbarkeit nach langer Entbehrung
und Ohnmacht, das Frohlocken der wiederkehrenden
Kraft... Der Mensch muß von Zeit zu Zeit
glauben, zu wissen, warum er existiert...“
Der Komponist sucht die Antwort in der ihn umgebenden
Natur und im menschlichen Herzen. Dem ursprünglichen
Plan des Verfassers nach sollte die Symphonie
aus sieben Sätzen bestehen:
Symphonie Nr. III
„DIE FRÖHLICHE WISSENSCHAFT“
Ein Sommermorgentraum
I. Der Sommer marschiert ein.
II. Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen.
III. Was mir die Tiere im Walde erzählen.
IV. Was mir die Nacht erzählt. (Altsolo).
V. Was mir die Morgenglocken erzählen (Frauenchor
mit Altsolo).
VI. Was mir die Liebe erzählt.
Motto: „Vater sieh an die Wunden mein!
Kein Wesen laß verloren sein“
(Aus des Knaben Wunderhorn)
VII. Das himmlische Leben
(Sopransolo, humoristisch).
In der Endfassung der 3. Symphonie blieben aber
sechs Sätze übrig; der geplante siebte
Teil ging nicht in sie ein und wurde bald darauf
zum Finale der 4. Symphonie. Später zog Mahler
das erwähnte Programm zurück (in der
Tat, wenn selbst der Herrgott die von ihm geschaffene
seine Welt nicht „erklären“ kann,
gehört es sich auch für den Komponisten
nicht, die eigene Komposition dem Zuhörer
„vorzukauen“).
Insbesondere, wenn man bedenkt, dass es „von
Beethoven angefangen keine moderne Musik <gibt>,
die nicht ihr inneres Programm hat.“ So
skizzierte Mahler selbst den Beitrag von Beethoven,
der erstmalig einer Symphonie den Atem der großen
allgemeinmenschlichen philosophischen Ideen einhauchte.
Kein Wunder, dass Mahler den Titel „Fröhliche
Wissenschaft“ zurücknahm, denn dieser
war von dem dramatischen und dramaturgischen Inhalt
der Symphonie viel zu weit entfernt. Aber der
Kerngedanke Nietzsches – die Gegenüberstellung
der erstarrten Natur und dem künstlerischen
Geist – erfuhr in der Symphonie ihr zweites
Leben.
Die Briefe Mahlers an seine Freunde sind indes
voll von Bemerkungen, die die Absicht des Autors
enthüllen. „Und so bildet mein Werk
eine alle Stufen der Entwicklung in schrittweiser
Steigerung umfassende musikalische Dichtung. –
Es beginnt bei der leblosen Natur und steigert
bis zur Liebe Gottes! … Meine Symphonie
wird etwas sein, was die Welt noch nicht gehört
hat. Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme
und erzählt so tief Geheimes, was man vielleicht
im Traume ahnt.“ (Aus Mahlers Briefen an
Anna von Mildenburg vom 1. und 6. Juli 1896).
Bezeichnenderweise betitelt der Komponist sein
Opus selbst als musikalische Dichtung und fährt
fort: „Daß ich sie Symphonie nenne,
ist eigentlich unzutreffend, denn in nichts hält
sie sich an die herkömmliche Form“
(Aus „Erinnerungen an Gustav Mahler“
von Natalie Bauer-Lechner).
Der erste Satz dauert fast so lang wie alle übrigen
Sätze zusammen. Nach Anweisung des Komponisten
soll er sich von dem auf ihn folgenden Menuett
durch eine größere Pause absetzen oder
sogar durch eine Unterbrechung. Damit teilte Mahler
selbst seine Symphonie in zwei gleichbedeutenden
„Abteilungen“ ein.
Im überwältigenden ersten Satz (Kräftig.
Entschieden), dessen ungewöhnliche Form nur
bedingt als Sonatenrondo bezeichnet werden kann,
leben Bilder einer Natur auf, die „stürmisch
das Eis aufbricht und die Ufer überflutet“
auf (Iwan Sollertinskij). Auf tragische Kollisionen
folgen heroische Aufschwünge, auf ekstatische
Ausbrüche Augenblicke der ruhigen Betrachtung.
Der im ersten Satz dominierende Marsch verändert
sich stellenweise bis zur Unkenntlichkeit.
In der Exposition als phantastisches Pan-Folge
einsetzend (mit Mahlers Worten, „vielmehr
treiben sich Satyrn und derlei derbe Naturgesellen
herum“), nimmt der Marsch zunehmend die
Form eines heroischen Voranschreitens an –
in ihm sah Richard Strauss nicht zufällig
die Arbeiterkolonnen der 1. Mai-Demonstrationen.
In der Durchführung verwandelt sich der Marsch
grotesk: Der Zug verliert seinen majestätischen
Charakter und löst sich auf in das fröhliche
Karnevalstreiben einer Menschenmenge auf der Straße.
Als ob sie versuchen würden sich gegenseitig
zu übertönen, inszenieren die Hörner
und Trompeten ein derbes Straßenspektakel,
es erklingen ausgelassene Gassenhauer, begleitet
vom Getrampel einer Batterie von Schlagzeugen.
Mahler äußerte sich gern ironisch bezüglich
seines nicht „tadellosen“ Geschmacks:
„Daß es bei mir nicht ohne Trivialitäten
abgehen kann, ist zur Genüge bekannt. Diesmal
übersteigt es allerdings alle erlaubten Grenzen.
Man glaubt manchmal, sich in einer Schenke oder
in einem Stall zu befinden.“
In der Reprise wirft der Marsch sein groteskes
Gewand ab; triumphierend erklingt das Einleitungsthema
und beschließt die gigantische symphonische
Form. Die abschließende Parade aller „Helden“,
d. h. aller musikalischen Themen des Satzes, verleiht
der Coda einen deutlich buffonesken Ton.
Der zweite Satz (Tempo di menuetto. Sehr mässig)
stellt ein graziöses Menuett dar.
„Es ist das Unbekümmertste, was ich
je geschrieben habe“, so Mahler zu Bauer-Lechner,
„so unbekümmert, wie nur Blumen sein
können. Das schwankt und wogt alles in der
Höhe aufs leichteste und beweglichste, ohne
Schwere nach unten in der Tiefe, so wie die Blumen
im Winde auch biegsam und spielend sich wiegen.
Freilich bleibt es nicht bei der harmlosen Blumenheiterkeit,
sondern plötzlich wird alles furchtbar ernst
und schwer, wie ein Sturmwind fährt es über
die Wiese und schüttelt Blätter und
Blüten, die auf ihrem Stengel wimmern.“
Und wieder haben wir es mit einem Rondo zu tun:
Der friedliche Refrain (das eigentliche Menuett),
in dem die Umrisse des Hauptthemas aus dem ersten
Satz durchschimmern, wird in den mittleren Episoden
von einer Reihe bizarrer und schneller Tänze
untermalt, die an den Rhythmus einer Tarantella
oder eines Csardas erinnern. Mahler meidet direkte
Wiederholungen, alle Themen des Menuetts werden
variiert, darauf verweist die Anweisung des Autors:
„immer reicher sich entfaltende Variationen“.
Der dritte Satz (Comodo. Scherzando. Ohne Hast)
ist ein Scherzo in einer erweiterten dreiteiligen
Liedform. Umrahmt wird das Scherzo von der Instrumentalversion
des Liedes „Ablösung im Sommer“,
das aus dem Zyklus „Lieder und Gesänge
aus der Jugendzeit“ nach den Worten „Des
Knaben Wunderhorn“ stammt. Und wieder verblüfft
die Vielfalt der Variationen dieser Liedform in
den äußeren Abschnitten. Im Mittelteil
taucht in dem ein weichen schlichten Posthorn-Solo
plötzlich das Motiv eines populären
spanischen Tanzes auf, der Jota Aragonesa. Die
plötzlich ungestüm eindringende Coda
durchbricht dramatisch das ruhige Fließen
des Scherzo.
Gerade die ersten drei Sätze der Symphonie
gaben Anlass für die Vorwürfe wegen
der Uneinheitlichkeit des Stils. In der Tat: Tarantella,
Csardas, Jota, Gassenhauer, „Kneipenlieder“...
Und das neben einer Schubertschen, mit Wagner
gewürzten Harmonik, neben einer „Vorwegnahme“
der Neu-Wiener (zu Recht wird Mahler als deren
Vorahne gehandelt). Mahler fürchtet nicht
den Vorwurf stilistischer Buntheit, wie vor ihm
Tschaikowski und nach ihm Schostakowitsch scheut
er auch nicht vor sogenannten „Platitüden“
zurück. Die Zeit hat ihm recht gegeben. Was
früher herablassend als „Eklektik“
bezeichnet wurde, ist heute in der Ästhetik
der Postmoderne zu einer soliden Terminologie
geworden: „Polystilistik“, „Collage“.
Der vierte Satz (Sehr langsam. Misterioso) wendet
sich erstmalig an den Menschen. Zum ersten Mal
tritt die Stimme auf – ein Altsolo (Contralto).
„Und das erste Wort in der Symphonie erklingt
gerade hier: „O, Mensch!“ Der Mensch,
schutzlos vor der allmächtigen mitternächtlichen
Natur <…>, einsam vor der abgründigen
Welt, vor der ganzen Trauer der Welt“ (Inna
Barsova). Der vierte Satz ist in einer strophischen
Form geschrieben, basierend auf dem Gedicht von
Friedrich Nietzsche aus seinem philosophischen
Poem „Also sprach Zarathustra“:
O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, Ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer, als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!“
Der fünfte Teil (Lustig im Tempo und keck
im Ausdruck) wird durch das morgendliche Glockenläuten
eröffnet, das den Anbruch des Tages ankündigt.
Alles ist vom Sonnenlicht überflutet. Begleitet
von einem Knaben-Chor, der das Läuten von
Glocken imitiert („Bimm – bamm –
bimm – bamm“) und eines Orchesters,
in dem hohe Bläser dominieren, die von Glöckchen,
einer Harfe und Triangel unterstützt werden,
singt ein Frauenchor das schlichte Kinderlied
über die himmlische Freude aus „Des
Knaben Wunderhorn“ – „Es sungen
drei Engel“. Diese Musik idt eine Vorahnung
der zukünftigen 4. Symphonie. Die Erzählung
über die Sünden und das Leiden des Petrus
im Dialog von Altsolo und Chor ist in dunklen
Tönen gehalten, und die ehrfürchtige
Bewunderung der Kraft und Gnade Gottes wird durch
die an liturgische Musik erinnernde Choral-Episoden
wiedergegeben.
Es sungen drei Engel einen süßen Gesang,
mit Freuden es selig in dem Himmel klang.
Sie jauchzten fröhlich auch dabei:
daß Petrus sei von Sünden frei!
Und als der Herr Jesus zu Tische saß,
mit seinen zwölf Jüngern das Abendmahl
aß,
da sprach der Herr Jesus: „Was stehst du
denn hier?
Wenn ich dich anseh’, so weinest du mir!“
„Und sollt’ ich nicht weinen, du
gütiger Gott?
Ich hab’ übertreten die zehn Gebot!
Ich gehe und weine ja bitterlich!
Ach komm‘ und erbarme dich über mich!“
„Hast du denn übertreten die zehen
Gebot,
so fall‘ auf die Knie und bete zu Gott!
Bete zu Gott nur alle Zeit,
so wirst du erlangen die himmlische Freud’!“
Die himmlische Freud’ ist eine selige Stadt,
die himmlische Freud’, die kein End‘
mehr hat,
die himmlische Freude war Petro bereit’t
durch Jesum und Allen zur Seligkeit!
Clemens Brentano und Achim von Arnim (Hrsg .)
Aus »Des Knaben Wunderhorn« (1805-1808)
Mahlers Biograph Paul Stefan bemerkte zurecht,
dass bei Mahler das „Erlebnis des Weltalls
auf der Straße beginnt und im Unendlichen
endet …“
Der Höhepunkt der Symphonie, das langsame
D-Dur Finale (Langsam. Ruhevoll. Empfunden) ist
ein festlicher, den Ruhm Gottes preisender Instrumentalhymnus,
ein Hymnus der allmächtigen Liebe („Gott
ist Liebe“). Das imperative Hauptthema aus
der Einleitung zur Symphonie erlebt eine wahre
Verwandlung. Hier erklingt es in dem beseelten,
majestätischen und ruhigen Gesang der Streichinstrumente.
Ein langes Aufsteigen zu den himmlischen Höhen
des Geistes, ein dorniger Weg, verdunkelt durch
Erinnerungen an schmerzliche Verluste. Dieser
Weg gipfelt in einer monumentalen Apotheose, einer
der schönsten und erhabensten Seiten der
symphonischen Musik, die die Welt kennt. Hell
klingende Blechbläser und ein mächtiger
vollklingender Streicherchor unterstützen
das im vorigen 5. Satz verkündete Credo:
„Durch Christus gelangen alle zur Glückseligkeit.“
© 2014 Josif Raiskin
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